100. Todestag von Rudolf Steiner

Vor 100 Jahren, am 30. März 1925, verstarb der Begründer der Anthroposophie Dr. Rudolf Steiner in Dornach bei Basel. In diesem Jahr schauen wir auf mehr als ein Jahrhundert der von ihm inaugurierten Anthroposophie zurück, die ein reiches geistiges Leben in verschiedenen Praxisfeldern weltweit ermöglicht hat. Dr. Steiner war Goethe-Herausgeber, Philosoph und Redakteur, ein höchst produktiver Schriftsteller, begnadeter Vortragsredner und vor allem ein spiritueller Lehrer.
Am 27. Februar 1861 in Nieder-Kraliewitz in der k. u. k. Monarchie geboren, wuchs Rudolf Steiner in den ärmlichen Verhältnissen einer Bahnangestelltenfamilie auf. Er studierte nach der Matura ab Oktober 1879 Naturwissenschaften an der Technischen Hochschule in Wien. Nach acht Semestern beendete Steiner aus finanziellen Gründen dieses Studium ohne Abschlussexa-men. Dennoch gelang es ihm, im Oktober 1891 an der Universität Rostock mit einer Dissertation mit dem Titel „Wahrheit und Wissenschaft“ zu promovieren.
„Ein vorzüglicher und gelehrter Mann, der Österreicher Rudolf Steiner, legte eine Dissertation vor, die ihn nach einem strengen Examen, das er ordnungsgemäß abgelegt hat, berechtigt, ein Doktor der Philosophie und der freien Künste zu sein“, urteilte die philosophische Fakultät.
In Wien lebte er ab 1890 im Hause der jüdischen Familie Specht als Erzieher und Hauslehrer. Von 1890 bis 1897 war er in Weimar Mitherausgeber der großen Goethe-Ausgabe, danach übersiedelte er nach Berlin und wirkte dort als Redakteur, Vortragsredner sowie Dozent an der sozialistischen Arbeiterbildungsschule. In zahlreichen Büchern, Aufsätzen und Vorträgen entwickelte er in den Folgejahren ein eigenes und neues spirituelles Menschen- und Weltverständnis. 1912/1913, nach der Trennung von den Theosophen, gründete Steiner die Anthroposophische Gesellschaft. Für diese schuf er in Dornach mit dem Goetheanum ein organisatorisches, künstlerisches und spirituelles Zentrum. Nach dem I. Weltkrieg wurde Steiner in der konkreten Anwendung seiner Anthroposophie tätig und gab Anregungen für die Reform und Neukonzeption der Gesellschaft in verschiedenen Lebensbereichen. So markierte die Eröffnung der ersten Waldorfschule am 7. September 1919 auf der Stuttgarter Uhlandshöhe den Beginn einer weltweiten, auf den Grundlagen der anthroposophischen Pädagogik und Lebensführung basierenden Bewegung.
„Anthroposophie ist ein Erkenntnisweg, der das Geistige im Menschenwesen zum Geistigen im Weltenall führen möchte. Sie tritt im Menschen als Herzens- und Gefühlsbedürfnis auf. Sie muss ihre Rechtfertigung dadurch finden, dass sie diesem Bedürfnisse Befriedigung gewähren kann. Anerkennen kann Anthroposophie nur derjenige, der in ihr findet, was er aus seinem Ge-müte heraus suchen muss. Anthroposophen können daher nur Menschen sein, die gewisse Fragen über das Wesen des Menschen und die Welt so als Lebensnotwendigkeit empfinden, wie man Hunger und Durst empfindet“,
formulierte Rudolf Steiner den ersten der Anthroposophischen Leitsätze in der GA 26 am 17. Februar 1924. Im zweiten Leitsatz hieß es:
„Anthroposophie vermittelt Erkenntnisse, die auf geistige Art gewonnen werden. Sie tut dies aber nur deswegen, weil das tägliche Leben und die auf Sinneswahrnehmung und Verstandestä-tigkeit gegründete Wissenschaft an eine Grenze des Lebensweges führen, an der das seelische Menschendasein ersterben müsste, wenn es diese Grenze nicht überschreiten könnte. Dieses tägliche Leben und diese Wissenschaft führen nicht so zur Grenze, dass an dieser stehengeblieben werden muss, sondern es eröffnet sich an dieser Grenze der Sinnesanschauung durch die menschliche Seele selbst der Ausblick in die geistige Welt.“
Anthroposophie gibt derart Einblicke und Wissen über die seelisch-geistigen Wesensgliedern des Menschen, von den früheren Erdverkörperungen und vom kosmischen Christentum. Das ganze Leben und Wirken Rudolf Steiners kann somit als eine Suche nach der Anschauung des Ewigen in uns, anders gesagt als Suche nach dem Einssein (unio mystica) mit der göttlich-geistigen Welt und deren Umsetzung im Hier und Heute verstanden werden.
Eine Umsetzung seiner Ideenwelt findet sich in der von ihm ins Leben gerufenen Schulbewe-gung. Widmen wir uns daher einigen aktuellen Aspekten der Pädagogik und den Herausforderungen der Gegenwart des Jahres 2025. Die Waldorfpädagogik im Sinne Steiners, so sie diesen Namen zu Recht tragen soll, hat nur eine Zukunft, wenn es genügend Menschen gibt, die sich auf ihr eigentliches Wesen besinnen. Die Welt hat sich in den letzten 100 Jahren rapide verän-dert. Die Kinder und Jugendlichen, die Elternhäuser, wenn es sie noch gibt, sind gänzlich anders als im Jahre 1925. Auch die Kollegien haben sich grundlegend verändert. In der heute existierenden Waldorfbewegung gibt es leider nur noch wenige, tief mit lebendiger Anthroposophie verbundenen Waldorflehrer, die zudem von ihrer Mitwelt gleichsam absorbiert werden. Sie stehen in ihrem Umfeld häufig allein, werden mit ihren Hinweisen und Mahnungen mitunter nicht gehört und können sich aufgrund der „Sachzwänge“ aller Arten pädagogisch oft nicht voll entfalten und sich mit Gleichgesinnten verbinden. Die Zukunft der Waldorfpädagogik hängt aber ganz von Menschen ab, die ihren Ursprungsimpuls und ihr eigentliches Wesen nicht der allge-meinen Verständnis- und Willenslosigkeit opfern, sondern deren ganzes Streben danach geht, die pädagogischen Ideale, trotz aller äußeren Widrigkeiten, wahrhaftig zu verwirklichen. Diese Menschen müssten sich zusammenfinden, um sich gemeinsam mit aller Kraft dem wahren Ideal der Erziehung, des Unterrichtens und der Förderung der Kinder und der Jugendlichen zu wid-men. Ohne wahre Waldorfpädagogik kann eine Menschheitsentwicklung nicht weiterkommen. Rudolf Steiner zeigte auf, dass der Mensch nicht nur ein materielles, sondern auch ein geistiges und seelisches Wesen ist. Das Wissen um den beseelten Menschen bildet die Grundlage für die heute weltweit bestehenden 1928 Kindergärten und 1270 Waldorfschulen. Die optimale Ent-wicklung des Kindes ist somit das Ideal und der wertvollste Besitz der Waldorfpädagogik. Das Sich-Vorbereiten für ein umfassendes Erfüllen dieses Ideals ist unbedingter Bestandteil der Ausbildung zum Waldorflehrer.
„Wie kann die Lehrerbildung in die Zukunft hinein umgewandelt werden? Sie kann nicht anders umgewandelt werden als dadurch, dass der Lehrer aufnimmt in sich dasjenige, was aus der Geisteswissenschaft kommen kann an Erkenntnissen über die Natur des Menschen.“
Zur Methodik, zum Wie und auf welche Weise dies geschehen könnte, finden sich zahlreiche Hinweise und Vorschläge in Rudolf Steiners Berner Vorträgen vom April 1924:
„…es fühlen heute zahlreiche Menschen überall in der Welt, dass das Erziehungs-, das Unterrichtswesen in einem gewissen Sinne einen neuen Einschlag erhalten muss…“
Dieser hundertundein Jahr später immer noch aktuellen pädagogischen Aussage ist nichts mehr hinzuzufügen.
Kommen wir wieder zum Menschen Rudolf Steiner und zu seinem Wirken. Steiners geistiges Universum erscheint uns Heutigen ein fast uferloses Meer zu sein, in dem es einen riesigen Raum für das Grundsätzliche der Waldorfpädagogik, die Kunst der Eurythmie, die anthroposophische Kunst und Architektur sowie die Medizin, die biologisch-dynamische Landwirtschaft und das ganze soziale Leben überhaupt gibt. Dies alles zu betrachten erzeugt bei dem Einzelnen geradezu Schwindelgefühle. Was war das für ein Mensch, was für ein besonderer Geist, der all dieses ersonnen, betrachtet und geradezu akribisch beschrieben hat? Jemand, der teilhaftig wur-de an der geistigen Welt und diese mit einem Seherblick durchdrungen hat?
Steiners Denken war ein einziges Werden, ein steter Übergang von einer ideellen Form in die nächste. Seine Welten sind geistig, aber nicht fern oder entrückt. Sie sind nicht jenseitig orientiert, sondern befinden sich in einem durchgeistigten Diesseits. Sie stehen somit ganz in der Tradition von Goethes Pantheismus und dessen Vorstellung einer göttlichen Kraft, die in allem stecke. In seiner konkreten Erfahrung des Geistigen erkannte Steiner die Wesensglieder der Welt. Er beschreibt den Menschen als ein dreigliedriges Wesen, das in drei Welten lebt und diese Welten durch drei Erkenntnisstufen erfasst. Der Körper ist das Werkzeug der Seele in der physi-schen Welt. Die Seele vermittelt zwischen Körper und Geist und nimmt an allen drei Welten teil. Der Geist manifestiert sich in der Geisteswelt, die durch die drei Erkenntnisstufen Imagination, Inspiration und Intuition zugänglich wird. Steiner betont die Wichtigkeit der spirituellen Entwicklung des Menschen. Durch Schulung und Meditation kann der Mensch seine höheren geistigen Fähigkeiten entwickeln und tiefere Einblicke in die geistige Welt gewinnen. Steiner war ein erkenntnisvoller Seher und gleichsam Hohepriester einer höheren Geistigkeit. Dazu besaß er Humor und die Gabe, sich in Menschen einzufühlen und ihnen zu vermitteln, verstanden und in ihren Problemen aufgefangen zu werden.
Die ganze Welt verstehen: Das war es, was Rudolf Steiner wollte. Und die ganze Welt, das war für Steiner eben nicht nur die materielle, die dingliche Welt, die man sehen, betreten, begreifen und vermessen kann, sondern er glaubte auch an eine geistige Dimension, eine höhere, über-sinnliche Welt – in die Eingeweihte mit besonderen Fähigkeiten Einsicht erlangen können.
Rudolf Steiners Werk und Wirken hinterlassen ein vielschichtiges Erbe. Seine visionären Ideen, insbesondere „Die Philosophie der Freiheit“ , haben zahlreiche Lebensbereiche beeinflusst und nachhaltige Impulse gesetzt. Seine ganzheitliche Betrachtungsweise des Menschen, die Körper, Seele und Geist gleichermaßen berücksichtigt, findet sich in nahezu allen Lebensbereichen bis hin zur Sozialen Dreigliederung wieder . Dieses Vermächtnis eines geradezu goetheanistischen Menschen in seiner höchsten Daseinsform hat auch nach 100 Jahren noch Bestand und, wenn wir in Steiners Geiste arbeiten und das Hinterlassene mit lebendigem Handeln und frischem Inhalt anfüllen, das Potential einer weiteren, weiten Zukunft.

Dr. Heiger Ostertag

 

Quellenverzeichnis
Erziehungskunst (November 2011) der Artikel von Christian Boettger. Ein Symposium über Rudolf Steiners Promotion in Rostock anlässlich seines 150. Geburtstags
Goetheanum. 20. Januar 2023 Marginalien zu Rudolf Steiners Leben und Werk – 24. Im Gedenken an Friedwart Husemann.1
Waldorf World List. Adressverzeichnis der Waldorfschulen, Waldorfkindergärten und Ausbildungsstätten weltweit
Die Erziehungsfrage als soziale Frage. Die spirituellen, kulturgeschichtlichen und sozialen Vierter Vortrag, 15. August 1919. Die Erziehung als Lehrerbildungsfrage.GA 296, S, 69
Anthroposophische Pädagogik und ihre Voraussetzungen. GA 304 a, S.8
Kafka zum Beispiel erbat im Frühjahr 1910 Rudolf Steiner bei dessen Pragbesuch um ein privates Gespräch, um persönliche Probleme zu klären.
GA4. Steiner, Rudolf: Die Philosophie der Freiheit. Grundzüge einer modernen Weltanschauung. Seelische Beobachtungsresultate nach naturwissenschaftlicher Methode.
Vorträge über das soziale Leben und die Dreigliederung des sozialen Organismus, GA 328–341

100. Todestag von Rudolf Steiner
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