Feldmessen in der zehnten Klasse Geistige Bildung gründet sich auf Arbeitspraxis
Warum sieht der Lehrplan von Waldorfschulen in der zehnten Klasse ein Feldmesspraktikum vor? Diese praktische, buchstäblich bodenständige Arbeit ist pädagogisch nicht allein als Ergänzung zur Trigonometrie aufzufassen, sondern sie wirkt stark auf das praktische Verständnis der theoretisch erarbeiteten Inhalte aus der Mathematik. Zusätzlich nehmen die Jugendlichen in dieser Zeit Aspekte der Physik und Geographie bewusster wahr.
Das Feldmesspraktikum dient in dieser Lebensphase der Schüler dazu, einen Bezug zur Erde und zu den praktischen Aufgaben des Lebens zu bekommen. Welche Herausforderung stellt sich den Heranwachsenden in dieser Altersstufe? Es geht darum, ins Praktische des Lebens einzutreten, mit beiden Beinen auf dem Boden zu stehen, „Erdenreife“ zu erlangen – aber mit Bewusstsein. Darüber hinaus ist das Feldmesspraktikum ein großartiges Betätigungsfeld, um sich messend und zeichnend mit der Erde – oder zumindest einem kleinen Teil davon – auseinanderzusetzen. Diesen Teil kennt der Schüler nach zwei Wochen Praktikum ‘wie die eigene Westentasche’.
Selbständiges Lernen – unter pädagogischer Anleitung
Die etwa sechzehnjährigen Jugendlichen sind in ihrer körperlichen Entwicklung schon weit fortgeschritten. Die Kräfte, die bisher stärker in der physischen Entwicklung gebunden waren, sind jetzt frei für geistige Betätigung. Der Jugendliche will Intellekt ausbilden. Jetzt entspricht es den natürlichen Entwicklungsphasen, seine Umwelt verstärkt durch Vernunft und Logik zu begreifen. Er will urteilen, tut sich aber noch schwer damit, oft sind seine Urteile vorschnell und radikal. Um Erkenntnis und Urteilsvermögen auf dem Weg vom Spontanen und Subjektiven zum Überlegten und Objektiven gewinnen zu können, bedarf der Jugendliche pädagogischer Anleitung. Dies ist ein mühsamer Weg, auf dem direkte Einwirkungen – wie ein schnelles „Das sollst du nicht …“ – wenig Sinn machen. Hilfreich ist dagegen die indirekte Anleitung bei Tätigkeiten, die der junge Mensch gerne tut. Das Feldmesspraktikum hat sich in jahrzehntelanger pädagogischer Anwendung als besonders wertvoll erwiesen.
Objektivität und sorgfältige Arbeitsweise trainieren
Jeder Schüler erstellt während des Praktikums seine Karte eines definierten Gebietes und erhält dadurch einen Überblick, den weder ein Rundblick noch der Blick aus einem Flugzeug bietet. Die nötige starke Abstraktion entsteht nur durch einen intensiven Prozess des „Verobjektivierens“. Will man zum Beispiel einen kleinen Bach abbilden, muss man sich nach jeder Biegung entscheiden, wie genau man Einzelheiten berücksichtigt, damit sie im Maßstab der Karte noch sichtbar werden.
Vermessung und Kartierung bedeutet ein hohes Maß an Objektivität: Fleiß, Geduld, Sauberkeit und Ordnung. Diese Begriffe werden nicht theoretisiert, sondern – oft schmerzlich – beim eigenen Tun erfahren. Ungenaue Messungen werden nicht zu anderen Messungen passen und so folgt auf Nachlässigkeit das Nacharbeiten, bis alle Messungen ein Bild ergeben. Die Trigonometrie liefert ein unerschütterliches und objektives Kriterium, ob die gemessenen Daten brauchbar sind oder nicht. So erleben die Schüler während des Feldmesspraktikums eindrücklich, welchen Aufwand aber auch welchen praktischen Wert „Tugenden“ wie Objektivität, Genauigkeit, Ordnung und Fleiß ihnen bieten.